Die Corona-Krise hat die Unterschiede zwischen Ost und West ganz offen werden lassen: Während sich in Asien so gut wie niemand dem Gebot, Masken zu tragen, widersetzte, musste in Europa harte Überzeugungsarbeit geleistet werden, bis sich der überwiegende Teil der Bevölkerung der Anordnung, eine Maske zu tragen, fügte. Die Gegner der Maskenpflicht wurden nicht müde, zu betonen, dass eine Maske den Träger der Maske nicht schützen würde. In Japan ist die Rücksichtnahme gegenüber den Mitmenschen höchstes Gebot. Rücksichtnahme ist ein Teil der japanischen Kultur. Für den Japaner ist es also selbstverständlich, dass er eine Maske trägt. In Europa ist der eigene Vorteil die entscheidende Größe. Und da der eigene Vorteil beim Tragen der Maske nicht direkt im Vordergrund steht, ist es für den Europäer auch nicht wichtig, diese zu tragen. Es bedurfte schon wochenlanger Aufklärungsarbeit, bis die Menschen verstanden, dass dann, wenn jeder eine Maske trägt, auch er selbst geschützt wird. Im Übrigen gibt es eine interessante Studie, die besagt, dass man mit einer selbstgenähten Maske fast denselben Schutz hat wie bei einer FFP2-Maske, dass man also durch das Tragen einer Maske nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst schützt. Hätte man diese Studie doch schon ein paar Monate früher gehabt, dann wäre so manche unnütze Diskussion überflüssig gewesen.
Im Osten steht also das Du ganz im Vordergrund, im Westen ist es das Ich. Vielleicht könnte man das Du auch durch den Begriff der Gruppe ersetzen. Ich habe drei Jahre lang in Tokyo gearbeitet und habe mich in dieser Zeit viel mit Meditation beschäftigt. Mit der Zeit entwickelte ich eine starke Körpersensibilität. Wenn ich in Tokyo in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war, spürte ich ein Gefühl von Wärme in dem Bereich meines Körpers, der den asiatischen Vorstellungen nach mit dem zweiten Chakra assoziiert wird. Selbst wenn die Züge überfüllt waren, hatte ich nie oder nur ganz selten das Gefühl von Beklemmung. Wenn ich in meinem Heimaturlaub in Münchens U- und S-Bahnen unterwegs war, dann kam ganz schnell ein unangenehmes Gefühl hoch, wenn die Leute dicht gedrängt neben einander standen. Ich hatte das Gefühl, als ob jemand mit einer Bohrmaschine in meinem dritten Chakra, dem Solarplexus, zu Gange wäre. Und welche psychische Bedeutung wird den unterschiedlichen Chakren zugeschrieben? Das zweite Chakra steht für das Du oder für die Gruppe, während das dritte Chakra dem Ego zugeordnet ist. Der Unterschied zwischen dem Du und dem Ich war für mich also körperlich spürbar.
Wie wenig wir uns im Westen für den Nächsten interessieren, das kann man sehr schön am Verhalten von so manchem Nachbarn erforschen. Bäume und Sträucher wachsen unmittelbar neben dem Zaun ungezügelt gen Himmel, mit Kettensägen wird während der Mittagszeit ohne Rücksicht auf die Nachbarn Holz gesägt, obwohl diese beim Mittag essen auf ihrer Terrasse Mittag sitzen. Wo Grundstücke noch nicht bebaut sind, wird im Winter auch kein Schnee geräumt, da der Besitzer sich keinerlei Mühe macht, seiner Verpflichtung nachzukommen.
Sicherlich ist manches erlaubt, d.h. durch Gesetze und Verordnungen abgesegnet wie z.B. das Sägen mit einer Kettensäge von morgens bis spät in den Abend. An Hand des letzten Beispiels komme ich zu dem Schluss, dass selbst in den Verordnungen die Rücksichtslosigkeit verankert ist. Wie könnte es auch anders sein? Daran sieht man sehr schön, dass es sich bei der Rücksichtslosigkeit um ein systemisches Problem handelt. Schließlich ist es die Gesellschaft, die Verordnungen und Gesetze erlässt und diese entsprechen eben der Grundeinstellung einer Gesellschaft. Entsprechend dem Motto, dass die gute Nachbarschaft dort beginnt, wo das Recht endet, könnte, ja sollte man rücksichtsvoller miteinander umgehen als es der Gesetzesrahmen vorgibt. Da sich die Menschen auf Grund ihrer Sozialisation ziemlich egoistisch verhalten, muss immer wieder der Rechtsstaat bemüht werden, um selbst berechtigte Forderungen durchzusetzen. Dem Beispiel mit den Nachbarn könnte ich noch beliebig viele aus anderen Bereichen hinzufügen, z.B. aus dem Straßenverkehr und, und, und. Die kennt vermutlich jeder. Ich habe mich schon oft gefragt, welche Gesellschaftsform sich durchsetzen wird, die egozentrierte des Westens oder die gruppenzentrierte des Ostens. Oder könnten die verschiedenen Gesellschaftsformen voneinander lernen.
Leider habe ich noch keine Gesellschaftsform kennen gelernt, in der bei den Menschen das vierte Chakra dominant war. Das vierte Chakra, auch Herzchakra genannt, steht übrigens für die Liebe. Vielleicht besteht der Kompromiss zwischen Ost und West darin, dass sich beide Gesellschaftsformen auf die Öffnung des vierten Chakras zubewegen. Schön wäre es. Und irgendwann wird es soweit kommen. Wieviel Corona-Krisen braucht es dazu noch?
Andreas Angermeir